Die Jahre: Annie Ernaux

Zeitreise

Das Buch wurde mir geliehen: Annie Ernaux, “Die Jahre”. Der Titel ist gut gewählt, denn das Buch schickt uns auf eine eigentlich rasante Reise entlang eines Lebens. Dabei wählt die Autorin keine klassische Erzählperspektive, sondern einen (scheinbar) unaufgeregten Tonfall, dabei doch nah am Geschehen, einem geschickten Dokumentarfilmer nicht unähnlich. Sie folgt dem Lauf der Zeit anhand von Fotos, dann ab den 70er-Jahren auch kurzen oder sogar weniger kurzen Filmen. Es ist eine Chronologie eines Heranwachsens, Reifens … und dann des leise beginnenden Verfalls im fortschreitenden Alter. Sie beschreibt Szenen, Situationen und die Beziehung zur Umgebung, während im Hintergrund eben sie vorbeiziehen: Die Jahre.

Wir verfolgen ein Leben in Frankreich, als Windelkind im Krieg und als Heranwachsende danach. Schule, Teenagerjahre, Studium, Ehe, Landflucht nach Paris und dann in den Speckgürtel, Scheidung, “zweite Jugend”… ein “ganz normales” Leben wie alle anderen auch, und dabei so echt. Im Hintergrund schwingt als Kontext die Welt mit, zuerst weiter weg und verschwommen in den Erzählungen der Erwachsenen und in der Zeitung, dann in Funk und Fernsehen, später immer dichter, “näher” und lauter in den zunehmend präsenter werdenden Medien: Miterleben und Erinnerung aus zweiter Hand werden verdrängt durch scheinbares Miterleben in der Echtzeit einer Medienrealität, schließlich das Internet. So verändert sich im Laufe der Jahre die Technologie, die Zivilisation, die Kultur, auch die Narrative der Politiker. Und doch sind es immer wieder dieselben Bewegungen und Impulse, die unter der Oberfläche wirken, einmal in diese und einmal in jene Richtung. Hintergrund und, eigentlich recht losgelöst davon, “echtes” Leben. Auch die Protagonistin wandelt sich. Als junge Frau betrachtet sie amüsiert die “Alten” und ihre weltabgewandten Befindlichkeiten, ihr Festhängen am Vergangenen. Alt wird sie niemals. Mit den Jahren werden es aber dann doch eher die “Jungen”, die merkwürdige Geheimsprachen reden, sich zu schnell bewegen und in ihrer Konsumwelt kein Interesse mehr für die wirklich wichtigen Dinge aufbringen.

Und stets aus der scheinbar faktenorientierten Perspektive des Dokumentarfilmers.

Im erst leisen, dann immer krasseren Gegensatz zur aufgeregten Fake-Welt der Fernsehwerbung ist es in “Die Jahre” dann tatsächlich genau diese formal distanzierte, von außen beobachtende und eher en passant wertende Kommentierung des Lebens, die die Jahre umso realer und greifbarer erscheinen lässt. Was Annie Ernaux in ihrer dokumentierenden Tonalität nicht sagt, füllt der Leser selbst aus. So entsteht eine kuriose Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit – mit einem Wendepunkt ähnlich dem Doppler-Effekt eines vorbeifahrenden Krankenwagens, einem gefühlten “Knick” in der Akustik, sobald die Handlung aus der Vorzeit auf einmal das eigene Geburtsjahr passiert und die beschriebenen Situationen persönlicher werden. Plötzlich kehrt sich das Verhältnis von Fremdheit und Vertrautheit um. “Ja, da war ich dabei.” Sie beschreibt dieselbe Zeit, in der ein Leser im Sandkasten spielte, nur steht die Protagonistin da im Berufsleben. Hätte man ihr begegnen, an der Hand der eigenen Eltern ahnungslos an ihr vorübergehen können, wenn man gerade zu jener Zeit an jenem Ort..? Hätte man gemeinsam dieselben Szenen erleben können, am Nebentisch sitzen oder im nächsten Auto fahren?

So bleibt, teilweise durch die genannte “Ausfüllarbeit” des Lesers, teils aber auch durch die erstaunlich stabile Erlebniswelt von einer Westeuropäerin zum anderen auch über nicht unwesentliche Generationen-, Landes- und Geschlechtergrenzen hinweg, die Fremdheit in der Beschreibung überraschend zart, die Vertrautheit überwältigt das subtil Trennende.

“Ja, nicht nur da war ich dabei. Das war auch ich”: Die Kinderspiele zuerst draußen, dann verstärkt drinnen mit immer mehr Dingen, die erste Verliebtheit, der erste Urlaub ohne Eltern, die gefühlte Andersartigkeit der Eltern, und doch findet man sich dann später, mit Job und Wohnung, in ihrer Rolle wieder. Aber auch die Unterscheidung zu Kollegen, Nachbarn, Passanten, sogar den eigenen Kindern, deren Erlebniswelt scheinbar so anders ist als die eigene, die Einsamkeit in der Masse. Und doch beweist gerade das Buch selbst, dass diese Einsamkeit eine Fiktion ist, dass diese anderen Leben, die jene Masse ausmachen, so anders nicht sein können. Wenn man sich so leicht in den kleinen Details der Erzählung eines anderen Menschen wiederfinden kann, was wäre dann, würde jede dieser anderen Personen so ein Buch schreiben? Dann würde die Überlappung der Leben, die sich schweigend dem Leser (scheinbar) allein erschließt, die Ähnlichkeit zum Anderen, deutlicher offenbar.

Nobelpreis 2022, das verkündet der Aufkleber am Cover. Dieser Preis ist hoch verdient. Beim Lesen drängte sich mir der Gedanke an die heute etwas unzeitgemäß wirkende, verschämt verborgene Kunst der Ethnologie auf. Der Wert der Ethnologie ist ihr Wesen der Beobachtung und des Zuhörens. Und so bezeichnet sich die Autorin tatsächlich, laut Klappentext, als “Ethnologin ihrer selbst”. In dieser ethnologischen Herangehensweise liegt die besondere Kraft dieses Buches, dessen Erzählung insistiert: Dieses “normale” Leben, diese Mainstream-Existenz, ist in manchen Details ganz anders, aber in anderen doch so nah an der deinen, Leser. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, obwohl wir uns anders, besonders, individuell fühlen wollen, mit diesem oder jenem nichts zu tun haben wollen, weil er so ist und ich ganz anders… in Wahrheit, so beweist dieses Buch mit seiner Zeitreise in das Leben eines Mitmenschen, verbindet uns alle doch, unsichtbar, viel mehr als uns trennt.

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