Tintenherz

Tintenherz

Verfilmt als “Inkheart” und übersetzt in hundert Sprachen (Anm.: umgangssprachliche Übertreibung, exakte Zahl unbekannt), aber da das Original von “Tintenherz” nun mal in deutscher Sprache verfasst ist, kann man dieses Buch auch auf Deutsch behandeln. Sorry, English-Speakers! Autorin Cornelia Funke ist dank Tintenherz quasi ein Weltstar geworden, so weit Schreiberlinge als Superstars gelten dürfen. Es gibt auch Fortsetzungen: “Tintenblut”, “Tintentod”, und neu: “Die Farbe der Rache”.

Tintenherz ist ein Kinder- oder zumindest Jugendbuch, die Hauptfigur ist zwölf, aber die Erlebnisse sind starker Tobak. Wir haben es mit einer Räuberbande zu tun, die nicht zimperlich ist.

Inhalt

Meggie liebt Bücher – eine Eigenheit, die sie mit ihrer ganzen in Bücher vernarrten Familie teilt. Aufzuwachsen zwischen Bücherstapeln und prall gefüllten Regalen hatte sie eigentlich kaum eine andere Chance. Im Großen und Ganzen ist sie ein glückliches Kind, doch ein Schatten liegt über ihrem Leben: sie hat ihre Mutter früh verloren und wächst nur mit ihrem Vater Mo heran.

Mo ist ein geschickter und leidenschaftlicher Buchbinder mit einem dunklen Geheimnis: Er hat die Fähigkeit, so schön vorzulesen, dass nicht nur in den Köpfen die Bücherwelt zum Leben erwacht. Er kann Gegenstände, Tiere oder sogar Charaktere so lebensnah beschreiben, dass sie aus den Seiten hervortreten und in unsere Welt gelangen. Eine Schattenseite hat die Fähigkeit auch: ab und zu rutscht etwas oder jemand aus unserer Welt hinüber ins Buch.

So ist das auch mit Teresa, Mos Frau und Meggies Mutter passiert: Als er das Buch “Tintenherz” vorlas, da war plötzlich ein sonderbares Wesen im Zimmer, aber Teresa war verschwunden.

Beim Versuch, das zu reparieren, hat Mo nicht nur den unehrlichen, aber im Wesentlichen harmlosen Staubfinger in die Welt gelesen, sondern auch, eine halbe Räuberbande. Capricorn heißt der brutale Anführer, und er findet sich in unserer Welt voller verletzlicher Menschen wunderbar zurecht. Seine Sprache, die der Gewalt, versteht man überall. Aber er will mehr! Er will Macht in der Welt haben, und unermessliche Schätze, und gewaltige Waffen, alles “geborgt” aus Büchern — und dafür braucht er “Zauberzunge”, wie Mo in der Sprache jener poetischen Gangster genannt wird. Denn andere haben nicht ganz das richtige Händchen, oder nicht den richtigen Zungenschlag, um dem Wort Gestalt und Leben zu verleihen, und die wenigen, die es halbwegs können, schaffen es nicht mit solcher Perfektion wie Zauberzunge.

Mo ist mit Meggie untergetaucht und hat neun Jahre lang im Verborgenen gelebt, damit Capricorn ihn nicht findet – und all die Jahre gelitten: er wollte Teresa zurück, aber er wagte nicht mehr vorzulesen, aus Angst, mehr, womöglich auch Meggie zu verlieren. Doch Verstecken gilt nicht: Capricorn hat Zauberzunge aufgespürt, und Staubfinger kommt, um ihn zu warnen.

Das ist der Auftakt zu einem abenteuerlichen Tauziehen widerstreitender Interessen: Capricorn hat seine wichtigsten Leute: die boshafte Mortola, den rauen Basta, den dümmlichen Flachnase und viele andere, teils aus Tintenherz, teils Gangster aus unserer Welt, und er will alle Ausgaben seiner verhassten Herkunft in Tintenherz aus dem Weg schaffen. Staubfinger will wieder zurück nach Hause, daher will er mindestens ein Exemplar retten. Mo will Teresa, und außerdem will er Staubfinger nicht zurück ins Buch lesen, denn er weiß, dass Staubfingers geschriebene Geschichte für ihn nicht gut ausgeht.

Die Reise führt ins Bücherschloss der faszinierenden, wenn auch im Umgang mit Menschen ungeübten Buch-Liebhaberin Elinor, in Capricorns Hochburg, einem abgelegenen Dorf im Apennin, und zum Autor von Tintenherz, dem etwas achtlos handelnden Schriftstellers Fenoglio. Es wird entführt, bedroht, gezündelt, sogar mit Messern hantiert und scharf geschossen, und, man mag es kaum hinschreiben, es gibt auch sehr weitgehende Eingriffe gegen das Wohl von Druckwerken. Doch die Guten in dieser Geschichte sind so gar keine Kämpfernaturen, und auch zu leutselig für ihr eigenes Wohl. So muss denn letztlich die Macht des geschriebenen und gelesenen Wortes ausreichen, um den Bösen paroli zu bieten und zu retten, was zu retten ist – auch wenn dafür wieder ein Preis zu bezahlen ist, und auch wenn am Ende so manche Frage unbeantwortet bleibt … wie im echten Leben.

Critique

Tintenherz ist spannend geschrieben und zieht beim Lesen schnell in seine Welt. Die Erzählung nutzt geschickt die Perspektive eines Kindes: eines Kindes, das von seinem Vater über die traurige Vergangenheit im Dunkeln gehalten wurde. Meggie kann sich kaum an ihre eigene Mutter erinnern und ist deshalb gar nicht so emotional belastet wie Mo. Die Lücken in Meggies Wissen erlauben es Cornelia Funke, uns beim Lesen mit überraschenden Wendungen und Erkenntnissen zu konfrontieren, über die die Älteren rund um Meggie eigentlich bestens Bescheid wissen. Je mehr Meggie das bewusst wird, desto mehr muss sie – eigentlich recht plötzlich – heranwachsen und sich im Umgang mit oft erstaunlich unreifen Erwachsenen behaupten.

Die Charaktere sind komplex und lebensnah, auch widersprüchlich, getrieben von teils widerstreitenden Emotionen. Funke ist nicht seicht. Immerhin geht es auch um ernste Ereignisse: Gewalt, Entführung und den Verlust von geliebten Menschen. Aber Cornelia Funke versteht es, diese dunklen Themen abzufedern: elegant, indem sie Meggie und ihre unschuldige Perspektive als zentralen Charakter nutzt, etwas weniger elegant, indem die Guten zum Teil “zu gut” sind, bis zur letzten Konsequenz “zweite Chancen” geben und dem Konflikt auszuweichen suchen, wodurch das Buch etwas länger wird als es sein müsste, und auch die Bösen sich am Ende, aus einer Meta-Perspektive betrachtet, etwas zurückhalten müssen, denn sonst würden sie am Ende noch gewinnen. So bleibt es ein Jugendbuch, aber ist im letzten Drittel nicht immer ganz so glaubwürdig wie im ersten.

Trotzdem sehr lesenswert: aus guten Gründen war Tintenherz ein mehr als ungewöhnlich großer Erfolg für ein deutsches Buch, bis hin zur weltweiten Verbreitung und der Hollywood-Verfilmung. Fantasie und Realität vermischen sich hier auf eine so einfühlsame Weise, dass es gelingt, eine “realistische” Magie in unsere Welt zu bringen, and die auch Erwachsene ein bisschen glauben können.

Zugleich ist Tintenherz eine Liebeserklärung ans Medium Buch an und für sich, speziell in seiner gedruckten Form: jene, die Mo so liebend gern repariert und neu bindet, die Elinor in den fantastischen Tiefen ihres Anwesens hortet wie ein Drache seinen Schatz, und die Meggie mit ihrer ganz besonderen, liebevollen Geste aufschlägt: mit einer Hand über den Buchdeckel streichend, das Gewicht des Papiers fühlend, und dann, nach einem Durchatmen, sorgfältig aufklappend.

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