Sibylle Berg

Nein, es ist kein Zeichen meiner einsetzenden Senilität, dass hier ein Autorenname steht anstelle eines Buchtitels. Sibylle Berg hat Stil und Aussagen, die sich durch ihr Gesamtwerk ziehen, mehr oder weniger unabhängig von Medium und Form, daher kommt es hier auf sie an und nicht auf einen bestimmten Titel.

Sibylle Berg war mal ein sehr klingender Name. Der Mainstream liebte sie, ihre Kolumnen waren überall, jeder las „suchen das Glück“ und „Der Mann schläft“, und danach ging sie wieder ein bisschen auf Backburner.

Das verwundert nicht, denn ihr Werk ist im Mainstream auf Dauer ein Fremdkörper, ist es doch ihre Angewohnheit, Mensch und Gesellschaft etwas vorzuhalten, das diesen nicht besonders schmeckt: einen Spiegel bei grellem Licht.

Geradeheraus mitten ins Gesicht

Das ist für eine Weile witzig, solange man sich einreden kann, dass sie doch irgendwie eher von den anderen spricht und nicht so sehr von einem selber, aber wenn es dann Zeile für Zeile so weitergeht, und wenn sie sich da auch selbst nicht ausnimmt aus ihren schneidenden Urteilen, dann trifft sie früher oder später auch beim abgebrühtesten Judger einen Nerv.

Sibylle Berg legt den Finger in die Wunde und lässt ihn dort. Das ist eine Geradlinigkeit, die in einer Gesellschaft der Poser (das heißt, der unseren!) anecken muss. In höflicher Gesellschaft wird laviert und in Watte verpackt, wenn nicht gar direkt gelogen. Das bekommt man so bei Sibylle Berg nicht.

Bis zu einem gewissen Grad erinnert sie an Michel Houllebecq in ihrer Art, da hinzutreten, wo es weh tut, aber sie ist keineswegs einfach eine „deutsche Houllebecq“. Die Stoßrichtung ist ähnlich, doch ihr Stil und Blickwinkel sind von seinem sehr verschieden; er mehr melancholisch-poetisch und mit den Gedanken bei der Gesellschaft, mit passiven Charakteren, die halt so dahinleben; sie dagegen mit dem ungeschönten Blick direkt auf das Blut und die Eingeweide – manchmal buchstäblich – und mit den Gedanken beim einzelnen Menschen, scharf umrissen (richtiger: durchblickt) und sehr persönlich, vor allem mit seinen Beziehungen zu den allernächsten Menschen um ihn herum.

Sibylee Berg ist sehr direkt. Eine bestimmte Schicht von Leuten mag dieses fast schon unangenehm Direkte, daher hat sie auch nach zahlreichen verstörenden Texten immer eine Grundmenge an unbeirrbaren Fans. Genug, offensichtlich, für ein Mandat im Europäischen Parlament.

Bei Sibylle Berg und in ihrer Bewertung durch das Publikum gibt es wenig Spielraum für Kompromisse: die einen sind fasziniert und begeistert, die anderen sind abgeschreckt und/oder deprimiert, zumindest abgestoßen. Manche sagen oder schreiben, dass sie Berg nicht auf nüchternen Magen schaffen oder nur in einer stabilen Grundstimmung und in kleinen Dosen.

Wenn man öfter auf Facebook oder Reddit unterwegs ist und sieht, wie die Menschen so drauf sind, kann einen aber Sibylle Berg nicht mehr wirklich schrecken. Im Gegenteil! Gegen diese oder noch schlimmere Plattformen wirken Bergs Glossen, Essays, Geschichten und Romane eher kalmierend und sogar erheiternd nach dem Motto: „It’s funny because it’s true“, abgefedert durch das wohlig-wonnige Gefühl, dass das bei ihr Gelesene wenigstens nur erzählt ist und nicht unmittelbare Konfrontation.

Fair

Der große Wert von Sibylle Bergs rabenschwarzen Betrachtungen der Welt liegt in einem Qualitätsmerkmal, das unserer Welt abhanden gekommen ist, der sogenannten Äquidistanz. En vogue ist es ja, fest verankert auf einer Seite zu stehen, auf dem entsprechenden Auge ganz blind zu sein, und die ausgewählte „Gegenseite“ mitleids- und besinnungslos zu bashen.

Bei Sibylle Berg klappt das nicht.

Also, das mitleidslose Bashen ja, obwohl immer mit (schwarzem) Humor und Verstand. Weniger gut der Groupthink: das Besinnungslose und das Blinde auf der einen, der eigenen oder ausgewählten, Seite. Sie hat da keine falsche Beißhemmung. Und ich muss nicht unbedingt immer einer Meinung mit ihr sein, um trotzdem zu respektieren oder sogar dankbar dafür zu sein, dass es sogar im trostlosen Tribalismus von heute noch eine Stimme gibt, die sich traut, so rundheraus ehrlich eine abweichende Meinung zu schreiben, ganz gleich ob die irgendwo gegen strömt oder nicht.

Einige mehr oder weniger zufällig

herausgepickte Zitate:

Früher ging es um die Selbstverwirklichung und die Karriere, das war in den Achtzigern. Unterdessen sollten wir verstanden haben, dass einem eine Karriere keine kalten Lappen auf die Stirn legt, wenn man krank ist.

Die Selbstgerechtigkeit des Einzelnen wird zur Pest, wenn sich aus ihr Gruppen Ähnlichdenkender bilden; genau so entsteht jede Scheiße auf Erden.

Warum ist es so, dass man sich in die wenigsten Menschen verlieben kann, fragt Bettina ihre Freundin. Und Vera sagt: Das ist so, weil wir uns nie in Menschen verlieben, sonderin in komplizierte Ideen.

Sie denkt eben noch, dass ihr Leben jetzt den Sinn verloren hat, weiß noch nicht, dass es den nie hatte

Wir alle genügen nicht, darum wollen wir Supermodel werden oder ins Fernsehen, weil wir sonst nur vor dem Computer sitzen und uns gegenseitig anonym zu hassen beginnen.

Ich sehe aus dem Fenster in der unsinnigen Hoffnung, dass mich einer entdeckt, von unten, und zu mir kommt, mit der erklärten Absicht, ein wenig neben mir sitzen zu bleiben.

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