Seit ewig (seit den frühen Neunzigerjahren) gibt es das Rollenspielsystem “Risus” von S. John Ross. Es handelt sich um ein extrem einfaches System mit wenigen Regeln, das häufig als “Gonzo”-Spiel für kurze, scherzhafte Runden gehandelt wird. Risus kann aber mehr.
Risus ist für die angesprochenen Zwischendurch-Spielrunden gut geeignet, und sowohl die (kurzen!) Regeln als auch der (längere, ausführlichere, optionale) Companion sind locker und unterhaltsam geschrieben, aber das System ist versatil genug, um spannende, tragische, ernste und lang andauernde Kampagnen ebenso gut abzubilden. Wie das Spiel abläuft und was passiert, das entscheidet die Spielrunde unter sich. Vorgaben bezüglich Spielwelt oder Stimmung gibt es bei Risus einfach nicht.
Vorreiter der narrativen Regelwerke
Apropos einfach:
Heute sind “einfache” und “narrative” Systeme sehr viel akzeptierter als früher – insbesondere White Wolf hat dem Tabellenwahnsinn ein Ende gemacht und den Rollenspiel-Mainstream vom Regelwahnsinn in Richtung Immersion verändert. Risus war hier ein Pionier.
Die Charaktererstellung unter Risus ist denkbar einfach: Man nehme 10 handelsübliche sechsseitige Würfel und verteile sie auf eine beliebige Anzahl von frei wähl- und formulierbaren “Klischees” – je mehr Würfel in einem Klischee, desto stärker ist es, maximal vier pro Klischee. Also 4 / 3 / 2 / 1 oder 4 / 4 / 2 oder 4 / 3 / 3, etc.
Die Crux sind die Klischees
Die Kombination der Klischees baut den Charakter. Aber was heißt “Klischee”? “Wikinger” umfasst Schifffahrt, Kampf und Wissen über Nordische Kultur, einfach alles, was man sich unter “Wikinger” klischeehaft so vorstellt. Nicht enthalten wird etwa die Kenntnis der chinesischen Sprache sein. “Spion” ist ein ähnlich umfassendes Paket, mit allem vom Codebrechen und Verkleiden bis zum Pilotieren und zum Nahkampf mit improvisierten Waffen, James Bond sei Dank. Nicht enthalten werden detaillierte Programmierkenntnisse sein, obwohl man in der Runde darüber diskutieren kann. “Friseur” wäre etwas eingeschränkter einsetzbar. Wer zum Beispiel eine Notlandung mit einer Boeing 777 durchführen möchte, kann sich dabei kaum auf dieses Klischee berufen. Für “Hilfskellner” gilt das ebenso. Aber zulässig sind sie alle Klischees, die Spieler oder Spielleiter in den Sinn kommen, auch sehr viel fantasievollere Klischees als reine Berufsbezeichnungen:
“Magiekundiger Raumfahrer” zum Beispiel. Oder “Special Forces Nahkampfexperte mit Musikgeschmack”. “Zeichenlehrer mit Mathetalent” vs. “Superman”. Damit wirft Risus den “heiligen Gral” vieler (aber keineswegs aller) Rollenspiele gleich über Bord – nämlich die ausgeglichene Spielrunde ungefähr gleich starker Figuren. Wie stark, schwach, kompetent, dumm, schön oder hässlich ein Spielercharakter ist, entscheidet der Spieler allein, Grenzen setzt ihm nur die eigene Fähigkeit, sich Klischees auszudenken und Anwendungsgebiete für sie zu finden – bzw der Einspruch der Spielrunde, wenn ein Ausreißer den gewünschten Spielstil hijacken möchte (“Perry Rhodan” in einer Spielrunde, die ein quasihistorisches Abenteuer im maurischen Spanien bestreiten möchte).
Auch negative Klischees sind natürlich möglich: Wer wirklich gut in “inkompetenter Zauberlehrling” ist, wird gewaltige Katastrophen produzieren, wer viele Würfel in “schlechter Schütze” hat, trifft vielleicht eher besser, wenn er schlechter wirft. Ich selbst habe einmal einen Charakter mit “Verliebt sich immer in die Falschen” gespielt.
Grundsätzlich wird erzählt – und grundsätzlich klappt alles. Wenn es schwierig wird, kommen die Würfel zum Einsatz. Dabei zeigt sich neben den Klischees die zweite Besonderheit von Risus: Die drei Kampfoptionen.
Blumengießen als Kampf
In den meisten Rollenspielen gibt es einerseits den Einsatz von Fertigkeiten und andererseits komplexere Kampfregeln. Bei Risus gilt alles als Kampf – schlimmstenfalls sogar die Zubereitung eines Espresso.
Einfacher Kampf
Soll es schnell und einfach sein, reicht ein Wurf gegen einen Zielwert (höher ist besser):
Die Anzahl der Würfel im Klischee (Hier kommt der “Hilfskellner” zum Zug!). Sehr einfache Aufgaben müssen nur 3 bis 5 erreichen (wir sehen: 1 Würfel in einem Klischee heißt, dass der Charakter diese Aufgabe nur sehr schlecht erfüllen kann). Sehr harte Aufgaben erfordern ein Ergebnis über 15 und können mit weniger als drei Würfeln gar nicht erreicht werden.
Single Action Conflict
Bestens geeignet für klassische Western-Duelle, aber natürlich auch fürs Blumengießen gegen eine widerspenstig designte Gießkanne mit mehreren Löchern: Der Single Action Konflikt bedeutet einen Wurf Spieler gegen Gegner. Ein Wurf “Hobbygärtner (2)” gegen “Widerspenstig designte Gießkanne (3)” – Das höhere Ergebnis siegt und entscheidet, ob Wurzeln oder Füße unter Wasser gesetzt werden – bzw. ob Sheriff oder Bandit im Staub enden.
Echter Risus-Kampf
Der berühmte, echte Risus-Kampf, der auch für so manch späteres Spielsystem Pate gestanden hat, ist das zähe Niederringen des Gegners – sei er ein Ninja, ein Kaffeeautomat, eine Steilwand oder ein wucherndes Gewächshaus.
Zwei Gegner treten an und schicken ihre Klischees gegeneinander ins Rennen. Jede Seite erzählt, was ihre Figur so macht – daraus leitet man dann die Folgen für den Gegner ab. Narrativ macht es schließlich einen Unterschied, ob mit Kissen oder mit Äxten gekämpft wird – regeltechnisch aber nicht.
In jeder Kampfrunde verliert der Unterlegene (vorübergehend) einen Würfel im eingesetzten Klischee. Wenn also “Spion (4)” gegen “Kung-Fu-Meister (4)” antritt, kämpft einer der beiden in der folgenden Kampfrunde nur noch mit 3 Würfeln. Der Sieger aus Runde 1 geht also mit einem Vorteil in Runde 2. Verwandelt er diesen, hat er in Runde 3 mit (4) gegen (2) schon beinahe gewonnen – es sei denn, sein Gegner wechselt das Klischee – denn das ist in jeder Runde neu gestattet. Sagen wir, der “Spion (4)” ist nebenbei auch “Hobbygärtner (3)”. In der dritten Kampfrunde ist er nur noch “Spion (2)”, also greift er in seiner Verzweiflung zur “widerspenstig designten Gießkanne” und spritzt dem “Ninja (4)” Wasser ins Gesicht. Er hat mit diesem überraschenden Zug höhere Chancen als mit seinen vorübergehend herabgesetzten Nahkampf-Skills als Spion – und es kann Leben retten, Klischees, die auf 1 herabgefallen sind, zu meiden, denn…
… wer als erstes im eingesetzten Klischee auf Null fällt, hat den Kampf verloren.
Auch hier ist Risus Vorreiter und hat viele spätere Regelwerke wie Wushu und FATE Core inspiriert: Der Sieger erzählt das Schicksal des Verlierers — im Rahmen des Erklärbaren. Nach einem Schachduell ergäbe es nicht viel Sinn, wenn der Verlierer erstickt und stirbt. Nach einem Kampf Kung-Fu-Meister gegen Hobbygärtner hat der siegreiche Gärtner aber durchaus die Wahl, ob er den bewusstlosen Gegner fesseln oder zu Kunstdünger verarbeiten möchte.
Interessantes Detail: Risus geht vom klassischen (lähmenden?) Wechsel zwischen “Angriff” und “Abwehr” ab. In jeder Kampfrunde verliert der Verlierer einen Würfel, gleich ob er angreift oder abwehrt. Wir kämpfen um das Erzählrecht, nicht um echten Schaden zuzufügen – Schaden ist narrativ, so wie es im 21. Jahrhundert generell üblicher und akzeptierter wurde.
Gruppen
Endgegner sind naturgemäß stark — beliebig stark, zum Beispiel “Gewalttätiger Mafiaboss (7)” — und damit einem einzelnen Spielercharakter vielleicht überlegen.
Um sie dennoch stellen zu können, gibt es in Risus die Möglichkeit (für Spieler wie für Spielleiter), eine Kampfgruppe zu bilden. Mehrere Figuren schließen sich zu einer Gruppe zusammen, eine Figur ist der “Anführer”. Der Anführer würfelt sein Klischee und zählt alle seine Würfel. Die anderen in der Gruppe werfen ihre Klischees, aber es zählen nur ihre Sechser. Diese werden dem Anführer zugeschlagen. Der Kampf gegen einen starken Gegner bleibt also auch bei einer Gruppe von sechs Spielern spannend, denn wenn alle nur Fünfer werfen, bleibt der Gruppenangriff relativ schwach und ein Würfel geht für die nächste Runde verloren.
Das war’s im Grunde. Es gibt noch einige Feinheiten, doch die lassen sich am besten im Original nachlesen. Das Schärfste an Risus ist nämlich, dass dieses wunderbare und vielseitige Spielsystem seiner weltweiten Fangemeinde seit 1993 durchgehend kostenlos bereitsteht. Danke, S. John Ross!
Web:
www222.pair.com/sjohn/risus.htm – Schade, der Link ist alt, überholt und tot.
Edit: Ersatz: https://ghalev.itch.io/risus
Außerdem S. John Ross’ Blog: rolltop-indigo und
die Fan-Community Risusverse.
Das Spiel:
http://www.drivethrurpg.com/product/170294
($ 0,00)
Der Companion:
http://www.drivethrurpg.com/product/203657/Risus-Companion
($ 9,95, optional, aber empfehlenswert)